Warum wir uns selbst belügen — und es nicht einmal merken
Wir alle tun es. Täglich. In kleinen Dingen und in großen Fragen: Wir belügen uns selbst. Wir sagen uns, dass alles okay ist, obwohl wir innerlich brennen. Wir behaupten, wir hätten etwas “aus freien Stücken” entschieden, obwohl wir von Erwartungen, Ängsten und alten Mustern getrieben wurden. Wir glauben, wir seien ehrlich zu uns selbst – und genau das ist oft die größte Lüge.
Warum? Warum manipulieren wir uns so raffiniert und konsequent, dass wir es selbst nicht mehr bemerken?
Die Antwort ist unbequem: Weil es uns beigebracht wurde. Nicht unbedingt absichtlich, nicht böse gemeint. Aber wir wachsen auf in Systemen, in denen Ehrlichkeit – vor allem die mit sich selbst – gefährlich sein kann. Wer als Kind zu laut seine Bedürfnisse äußert, wird als anstrengend empfunden. Wer seine Wut zeigt, gilt als schwierig. Wer traurig ist, wird getröstet, anstatt wirklich gehört zu werden.
Also lernen wir: Gefühle sind verhandelbar. Bedürfnisse sind störend. Wahrheit ist relativ – solange sie niemanden beunruhigt.
Und so entsteht sie: die leise, innere Stimme, die uns manipuliert. Die sagt: “Das brauchst du gar nicht.” Oder: “Du solltest dich dafür schämen.” Oder: “Reiß dich zusammen, andere haben es schlimmer.” Diese Stimme klingt wie Vernunft, wie Reife, wie Anpassung. Aber oft ist sie nur ein Echo all der Stimmen, die uns nie wirklich zugehört haben.
Selbstmanipulation ist ein Schutzmechanismus. Sie hilft uns, durchzukommen. Die Realität etwas weicher zu machen. Aber sie hat ihren Preis. Je länger wir in dieser Illusion leben, desto weiter entfernen wir uns von uns selbst. Wir funktionieren, aber wir fühlen nicht mehr wirklich. Wir leben, aber es fühlt sich nicht echt an.
Und irgendwo tief in uns, in einem Raum, der stiller ist als jeder Gedanke, wissen wir das. Dort liegt eine Wahrheit, die nicht gelernt werden muss, weil sie immer schon da war. Manche nennen es Intuition, andere Seele, manche Bewusstsein oder einfach nur “das stille Wissen”. Es ist jener Teil in uns, der uns ruft, wenn wir ganz still werden. Der uns zuflüstert: Da ist mehr. Mehr Echtheit. Mehr Tiefe. Mehr Leben.
Der Weg zurück beginnt nicht mit großen Erkenntnissen, sondern mit kleinen Geständnissen:
Ich bin müde.
Ich bin neidisch.
Ich habe Angst.
Ich will mehr, auch wenn ich denke, ich dürfte es nicht.
Sich selbst nicht mehr zu belügen, ist kein einmaliger Akt. Es ist ein tägliches Wieder-Erinnern. Ein stilles Hinspüren. Ein inneres Aufräumen. Und manchmal auch ein Gebet – nicht an etwas außerhalb von uns, sondern an das, was in uns erwachen will.
Denn echte Freiheit beginnt dort, wo wir aufhören, uns selbst Geschichten zu erzählen – und anfangen, wirklich hinzuschauen. Nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem Herzen. Mit der ganzen Seele.